Im November 2001 hatte ich die Ehre, Tschingis Aitmatow persönlich kennenzulernen. An diesem Tage war er von der Stadtbücherei Hamm eingeladen worden, sein neues Werk „Kindheit in Kirgisien“ in einer Lesung zu präsentieren. Die Luther-Kirche als Lesungsort war bis auf den letzten Platz gefüllt. Und ganz bestimmt hat es niemand bereut. Wir alle durften hautnah miterleben, welch außerordentliche Ausstrahlung dieser Schriftsteller besaß und wie fesselnd er zu erzählen vermochte.
Obwohl Tschingis Aitmatow doch aus dem fernen Kirgisien und damit aus einer völlig fremden Kultur stammte, verfolgten die Menschen hierzulande sein Leben und Werk schon seit langer Zeit mit großem Interesse. All seine Romane wurden inzwischen ins Deutsche übersetzt und stießen allseits auf breite Resonanz. Bei dieser Veranstaltung wurde mir schnell klar, warum das so war. Aitmatow zog das Publikum scheinbar mühelos und mit größter Selbstverständlichkeit in seinen Bann. Obwohl er damals immerhin schon 73 Jahre alt war und – wie ich bereits wusste – ein sehr entbehrungsreiches Leben geführt hatte, zeugte sein ganzer Auftritt von Elan, Enthusiasmus und Vitalität.
Im Anschluss an die Veranstaltung nahm ich an einem gemeinsamen Abendessen mit dem Literaten teil, zu dem auch einige Honoratioren der Stadt Hamm geladen waren. Dort unterhielt ich mich angeregt mit Friedrich Hitzer, Aitmatows Dolmetscher, der ihm auf seinen Reisen durch die europäischen Länder ein treuer Begleiter war. Gegen Ende der Veranstaltung fasste ich mir dann ein Herz und erlaubte mir, ihn und Aitmatow zum Frühstück zu mir nach Hause einzuladen. Zu meiner großen Freude sagten beide sofort zu.
Am nächsten Morgen sprachen wir in gemütlicher Atmosphäre lange und ausgedehnt über viele für mich sehr interessante Themen – unter anderem über Erziehung und Bildung, über seine Bücher und schließlich auch über seine mögliche Nominierung für den Literaturnobelpreis. Mir fiel auf, von welch tiefen Furchen sein Gesicht durchzogen war. All das Leid und der Schmerz, die er seit seiner Kindheit erfahren hatte, zeichneten sich deutlich darin ab.
Wie die „Kindheit in Kirgisien” entstand
Aitmatow erzählte mir, welchen Hintergrund sein aktuelles autobiografisches Werk hatte: „Seit zehn Jahren bereise ich Deutschland und die anderen deutschsprachigen Länder. Auf meinen Reisen mit dem Auto hat mich Friedrich Hitzer regelmäßig begleitet. Dabei habe ich ihm immer wieder auch von meiner Kindheit und von meinen Erlebnissen im Krieg erzählt. Hitzer fand meine Schilderungen sehr interessant und war davon überzeugt, dass auch die deutsche Öffentlichkeit großes Interesse daran zeigen würde. Deshalb machte er sich die ganze Zeit über Notizen. Auf diese Weise entstand mein Buch „Kindheit in Kirgisien“ in deutscher Sprache.“
Damals stand es für mich gar nicht zur Debatte, das Buch ins Türkische zu übersetzen. Erst ein wenig später unterbreitete mir der „DA-Verlag“ das Angebot, doch dann zögerte ich nicht lange. So konnte „Çocukluğum“ (Meine Kindheit) auch für die türkische Sprache gewonnen werden.
Für die im Juli 2002 in Druck gegangene Übersetzung schrieb ich folgendes Vorwort:
„Autobiographien sind gleichzeitig auch immer historische Dokumente. Und so liefert uns das autobiografische Werk ‚Kindheit in Kirgisien‘ des weltberühmten Schriftstellers Tschingis Aitmatow einen wertvollen Zeitzeugenbericht über die dramatischen und tragischen Ereignisse der Kriegszeit und Nachkriegszeit in der früheren Sowjetunion und dort insbesondere in Kirgisien. Mit seiner Beschreibung des soziokulturellen Zustands der Gesellschaft, in der er lebte, entführt Aitmatow seine Leser auf eine Reise in die Vergangenheit. Aitmatow verzweifelt nicht an Hunger, Armut und Elend. Geduldig erträgt er geballtes Leid und führt uns so in aller Deutlichkeit vor Augen, dass es möglich ist, sämtlichen Widrigkeiten zu trotzen und anschließend sogar den Gipfel des Erfolges zu erklimmen.
Freundschaft und Solidarität sind die magischen Kräfte, die Aitmatow alle Notlagen überwinden ließen. Aitmatow ist bilingual aufgewachsen, und die Vorteile, die er im Laufe seines Lebens aus diesem Umstand zieht, sollten sich die in Deutschland und Europa geborenen und aufgewachsenen türkischen Kinder und Jugendlichen ganz bewusst vor Augen führen. Ich hoffe, dass ihnen beim Lesen von „Meine Kindheit“ klar wird, was ein reicher Wortschatz und eine flüssige Sprache bewirken können. Wahrscheinlich werden sie an einigen Stellen lächeln und manchmal auch die eine oder andere Träne vergießen. Die Geschichten, die Aitmatow erzählt, sind durchweg spannend und schön geschrieben. Es war mir eine besondere Ehre, ein Buch dieser charismatischen Persönlichkeit übersetzen zu dürfen; das Buch eines Schriftstellers, dessen Werke laut UNESCO-Informationen weltweit in 154 (aktuell 157) Sprachen übertragen wurden.“
Der Wert der Zweisprachigkeit
Aus diesen Zeilen geht vielleicht hervor, dass mir – als einem in Deutschland lebenden und unterrichtenden türkischstämmigen Lehrer – Aitmatows Zweisprachigkeit besonders imponiert hat. Ich kann allen türkischen Kindern nur ans Herz legen, sie sich zum Vorbild zu nehmen. Daneben jedoch möchte ich eine weitere wunderbare Eigenschaft dieses bedeutenden Schriftstellers hervorheben: Trotz aller noch so leidvollen und betrüblichen Erfahrungen mit den Sowjets und vor allem den sowjetischen Behörden ließ er sich nie davon abbringen, seine innere Verbundenheit zur russischen Sprache und zum russischen Volk zu pflegen und auch zum Ausdruck zu bringen. Aus dieser Haltung lässt sich eine sehr wichtige Lehre ziehen: Junge Menschen türkischer Herkunft mögen in Deutschland und Europa negative und ausgrenzende Erfahrungen machen. Sie dürfen aber auf keinen Fall den Fehler begehen, die Sprache des Landes, in dem sie leben, oder sogar dessen ganzes Volk dafür verantwortlich zu machen. Stattdessen sollten sie sich bemühen, den Kontakt nie abreißen zu lassen und ihre sozialen Bindungen nicht zu vernachlässigen.
Standhaft, geduldig und ohne je die Hoffnung zu verlieren, gelang es dem 1928 geborenen Aitmatow, die vielfältigen Herausforderungen seines Lebens zu meistern. Aufgewachsen im kirgisischen Dorf Scheker, traf ihn schon im Alter von zehn Jahren der erste harte Schicksalsschlag, als die sowjetischen Behörden seinen Vater und seinen Onkel hinrichten ließen. Einige Jahre zuvor hatte seine Familie eine fünftägige, äußerst strapaziöse Reise nach Moskau unternommen, um dort den Vater zu besuchen. Sie blieb dort zwei Jahre, während derer Tschingis Aitmatow die erste und zweite Klasse einer russischen Grundschule besuchte.
Seine bewegenden Erinnerungen an diese Reise wie auch an seinen Aufenthalt in Moskau sind in dem Buch „Kindheit in Kirgisien“ verewigt. Fernab der Heimat in Moskau erlernte Aitmatow die russische Sprache, was ihn nach seiner Rückkehr dazu qualifizierte, in Kirgisien wichtige Posten als Dolmetscher, Steuereinsammler, Dorfsekretär und Lehrer zu übernehmen. In den folgenden schrecklichen Kriegsjahren teilte er Schicksal und Leid der kirgisischen Bevölkerung.
Weltbürger statt Wutbürger
Nach seinem Schulabschluss studierte Aitmatow Tiermedizin in der Hauptstadt Bischkek (damals Frunse) und anschließend Literatur am Gorki-Institut in Moskau. Als Abschlussarbeit legte er dort eine Erzählung vor, die von vielen nicht zu Unrecht als die schönste Liebesgeschichte der Welt bezeichnet wird. „Dschamilja“ zählte auch in den DDR-Schulen zur Pflichtlektüre. In der Sowjetunion wurden ihm nun immer verantwortungsvollere Aufgaben übertragen. Vom einfachen Redakteur der „Prawda“ stieg er auf zum persönlichen Berater von Michael Gorbatschow, der der Sowjetunion schließlich den Todesstoß versetzen sollte. Aitmatow war seinerzeit Botschafter in Luxemburg. Bis zu seinem Tod übte er diese Tätigkeit später auch für sein unabhängig gewordenes Heimatland Kirgisien aus.
Die außergewöhnlich lebendigen Schilderungen und Darstellungen all dieser Erfahrungen und seine einfühlsamen Visionen von einer besseren Welt sind es, die die faszinierende Atmosphäre von Aitmatows Romanen und Kurzgeschichten ausmachen. Leserinnen und Leser aus verschiedensten Kulturkreisen lassen sich gern von ihr ergreifen und bezaubern. Die wichtigsten Motive seiner Werke sind seinem eigenen Leben entlehnt. Und so begegnen uns dort kirgisische Traditionen, Legenden und Märchen, die mithilfe einer sehr einfachen, aber gleichwohl fesselnden Sprache miteinander verwoben werden. Zentrale Themen seiner Bücher sind Liebe, Freundschaft, Leiden in Kriegszeiten, Heldentum und auch die Verbundenheit junger Kirgisen mit ihren Bräuchen und Traditionen. Mit seinen überaus fantasievollen Naturdarstellungen hat Aitmatow ebenso Maßstäbe gesetzt wie mit seinen detailfreudigen Schilderungen des traditionellen und des modernen Lebens.
Tschingis Aitmatow, der sich immer auch für die Bildung und Erziehung junger Menschen eingesetzt hatte, war sehr traurig darüber, dass „die Verletzung der Freiheit und Würde des Menschen in der modernen Welt ein Ausmaß erreicht hat, das an die Zustände im Mittelalter erinnert.“ Aus dieser Kritik an der Welt von heute spricht nicht nur Betroffenheit. Vielmehr manifestieren sich in ihr das persönliche Engagement und das Pflichtgefühl eines offenen Weltbürgers. Aitmatow war ein vorbildlicher, verantwortungsbewusster Intellektueller.
Ich war sehr niedergeschlagen, als ich vom Tod Tschingis Aitmatows (10. Juni 2008) erfuhr.
- Der Artikel wurde anlässlich seines Todes veröffentlicht.