Dank der Digitalisierung befinden wir uns mitten in einem historischen gesellschaftlichen Wandel. Niemand weiß es, wohin diese immense technologische Entwicklung führt und was wir noch werden erleben müssen. Alles geschieht ohne unseren Willen.
Die Grundbedürfnisse des Menschen wie Liebe, Geborgenheit, Solidarität, Bindung, Anerkennung einerseits und die Invasion der (sozialen) Medien andererseits überfordern den Menschen sowie das familiäre und gesellschaftliche Leben. Was tun? Wo und wie finden wir unser Glück? Werden wir Sklaven der Medien?
Dafür brauchen wir einen Ausweg und es liegt an uns, einen gangbaren Weg zu finden. Wie können wir denn unser Leben aktiv in Griff nehmen und gegenüber der Fremdsteuerung achtsam sein?
Genau hier gibt uns die Medienforscherin Sabria David mit ihrem neu erschienenen Buch „Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick – Medienresilienz“ (Patmos) viele Impulse, wo wir ansetzen können. Wenn soziale Medien und digitale Technologien unser Leben binnen kurzer Zeit radikal verändert haben, gibt es keinen anderen Ausweg, als dass wir diesen grundlegenden Wandel selbstbestimmt mitsteuern müssen. David stellt klar, was wir tun können, um in einer digitalen Welt glücklich und erfüllt zu leben.
Grundvoraussetzung dafür ist ein Bewusstsein für Medienresilienz zu entwickeln. Dazu gibt die Autorin diverse Beispiele.
Wer seinen Schmerz selbst nicht fühlen möchte, kann auch nicht den Schmerz der anderen fühlen, also empathisch sein. Eine empathielose Gesellschaft fördert diese Abspaltung, Fragmentierung und Entfremdung des Einzelnen – und sie ist als Gesamtheit anfällig für „Verführung“ durch extreme Gruppen und als charismatisch erlebte Führungsfiguren. Sie bieten – so scheint es – Identität und Sinn und erlösen von der eigenen, nicht eingestandenen Schwäche. Verantwortung für sich selbst, das Gefühl von Schuld und verdrängte Ohnmacht und Hilflosigkeit können so nach außen projiziert und im anderen bekämpft werden. (S.20)
Der digitale Wandel treibt die Veränderungen an und bietet zugleich neue Möglichkeiten, mit den Veränderungen umzugehen: Distanzen überwinden, Gespräche führen, Freunde finden und halten, inspirieren und sich inspirieren lassen, Entdeckungen machen, mit anderen zusammenarbeiten und Neues entwickeln, Wissen teilen, Vertrauen, Fairness und Offenheit pflegen, Experimentierfreude und Improvisationskunst feiern – das macht eine digitale Infrastruktur möglich. Und all dies kann uns helfen, eine gute digitale Gesellschaft aufzubauen, in der es uns gelingen kann, glücklich zu sein. (S.22)
Eine wichtige Frage der Autorin ist, was uns ins Netz zieht. Denn Bindung macht glücklich. Was Bindung ist und wie sie gelingen kann, wird im Buch ausführlich dargestellt. Die Digitalisierung ist ein paradoxer Faktor. Das Internet bedient das menschliche Bedürfnis nach Bindung und Bezug. Es ermöglicht uns tatsächlich, Distanzen zu überwinden. Wir können mit Freunden oder Bekannten auf anderen Kontinenten zoomen oder chatten. Im digitalen Raum können wir uns mit Menschen aus diversen Anlässen zusammenfinden oder Konferenzen abhalten. Es geht darum, die Digitalisierung nicht als ein rein technisches Phänomen misszuverstehen, sondern die urmenschlichen Sehnsüchte und Ängste, die uns ins Netz ziehen, in den Blick zu nehmen.
Mit dem Buchdruck wurden die Produktion und die Rezeption von Inhalten getrennt, sowie die, die Inhalte produzieren (Autoren), von denen, die diese Inhalte rezipieren (Leser). Die Digitalisierung hebt diese Trennung wieder auf. Jeder, der lesen kann, kann jetzt auch schreiben und seine Inhalte veröffentlichen, ohne sie durch einen Publikationsprozess hindurchschleusen zu müssen – mit allen Konsequenzen der ungesicherten Herkunft, die das hat. (S.49) Nun kann jeder mit einem Mausklick öffentlich sichtbar werden, sprechen, schreiben und die Welt erklären. Statt wohlgeordneter Medienwelt herrscht eine ungeahnte Vielstimmigkeit, in der Klugheit und Unsinn, Wissenschaft und Verschwörungstheorien, Whistleblower und Kosmetikblogger ungebremst und ungefiltert aufeinandertreffen. (S.55)
Das Schlüsselwort, das eine wichtige Herausforderung für gegenwertige Gesellschaften sein wird, ist die Mündigkeit. „Wie die Demokratie einen mündigen Wähler braucht, braucht die digitale Gesellschaft einen mündigen Mediennutzer.“ so David. Warum wir alle die Kompetenz haben müssen, gute Köche (nämlich gute Mediennutzer) zu sein und was die Digitalisierung von der Gesellschaft verlangt, kann man (im) in diesem Buch anhand der einleuchtenden Beispiele lesen. Mitwirkung und Verantwortungsübernahme in allen Bereichen – sowohl in der Produktion wie Rezeption von Medien, Nachrichten und Informationen. Für mehr Freiheit und Demokratisierung ist dies unvermeidbar.
Freiheit ist das höchste Gut. Das steht außer Frage. Aber die Verantwortung zu übernehmen ist mühsam. „Die Überzahl an Möglichkeiten und Angeboten kann auch dazu führen, dass man -erschöpft von der Auswahl- zum erstbesten Fertiggericht greift, ohne zu wissen, wer es wie und warum zubereitet hat. Es ist einfach und schnell. Und es macht schnell satt.“ (S.56) Daher spielt die soziale und digitale Bildung eine wichtige Rolle, damit die Einflussmöglichkeiten verantwortlich und mündig genutzt werden können.
Die Autorin setzt sich mit den historischen Entwicklungen und Funktionen des Buchdrucks und den immensen Unterschieden mit den neusten Errungenschaften der Digitalisierung auseinander. Die Mammutaufgabe ist dabei, wie die Gesellschaft diese mündigen Mediennutzer hervorbringen soll. Meines Erachtens wird die Demokratie eine Doppelbelastung erleben, erstens durch unmündige Wähler und unmündige Mediennutzer, die zukünftig eine große Herausforderung für die Gesellschaften werden.
Was im positiven Sinne Hinterfragbarkeit ist, ist im negativen Sinn die Relativierung, Diskreditierung und Manipulation von Fakten und Wissen. Dies ist eine häufig genutzte Strategie populistischer Strömungen. Wer heute in Bezug auf Desinformation nicht achtsam genug ist, ist leichter zu manipulieren.
Ein weiterer wichtiger Begriff in einer digitalisierten Gesellschaft ist die Entfremdung. Im Kontext des Buches verwendet ihn Sabria David pragmatisch: „Entfremdung ist die Entfernung von etwas, das uns vertraut und nah gewesen zu sein scheint. Und je rasanter sich unsere Gesellschaft verändert, je mehr Vertrautes aus unserem Umfeld verschwindet, desto stärker ist das Gefühl der Entfremdung.“ (S.79) Eine Antwort auf diese Problematik ist in unsicheren Zeiten die Aktivierung des Bindungssystems. Die gesellschaftliche und persönliche Bindung ist wichtiger geworden denn je. Wenn wir uns Entfremdung als Schale einer Waage vorstellen, können wir der Autorin zufolge auf die andere Waagschale „Annäherung, Zusammenwachsen, Zuwendung, Zuneigung, Zusammenhang, Begegnung, Kennenlernen, Partizipation, Solidarität“ legen, um die Balance wiederherzustellen. Das Gegenteil der Entfremdung ist also das Gefühl, dass alles Sinn und Zusammenhang hat, verstehbar ist und wir damit verbunden sind. „Wer die Welt nicht mehr durchschaut, wird manipulierbar.“ so David. Denn „politische Akteure nutzen die Empfindung der Entfremdung, der Orientierungslosigkeit und des Kontrollverlusts für sich und ihre Zwecke. Sie ernähren sich von den Wunden der Menschen, zehren von ihren Gefühlen der Überforderung, Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit. Sie haben kein Interesse daran, dass die Menschen sich wohlfühlen. (…) Sie schüren Ängste und Unruhe, säen Zweifel an der Demokratie, am Funktionieren von partizipativen offenen Gesellschaften und an der Legitimation von demokratischen Prozessen.“ (82)
Andererseits entfernt aber die Digitalisierung Menschen nicht nur voneinander, sondern verbindet sie uns auch durch digitale Infrastruktur miteinander. Und diese Strukturen werden von Rechtspopulisten und Islamisten instrumentalisiert und ausgenutzt, um ihre destruktiven Ziele zu erreichen. Davor können die Eltern ihre Kinder schützen, wenn sie mit der Digitalisierung bewusster und differenzierter umgehen.
David setzt sich auch mit dem Begriff „Heimat“ auseinander. Der Spruch „Wo die Heimat als Ort fehlt, kann das Digitale eine Heimat bieten.“ ist eine interessante Perspektive. „Der digitale Raum ist das Lagerfeuer, um das sich alle scharen, an dem man sich wärmt.“ (S.99) Ich bin aber skeptisch, ob eine digitale Heimat das Heimatland als Ort ersetzen kann. Denn mit Heimat identifiziert man sich stärker emotional: mit Natur, Geschichten und Erlebnissen. Das alles kann man im digitalen Raum nicht genießen. David sieht aber diesen digitalen Raum als eine echte Brücke in das reale Leben.
Ein bedeutender Teil des Buches ist das Themenfeld „Grenzen“ für die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen. „Die Fähigkeit, sich abzugrenzen, Nein sagen zu können und die Grenzen der eigenen Belastbarkeit, die eigene Überforderung und Reizüberflutung wahrnehmen und gegensteuern zu können, ist ein zentraler Faktor ganz allgemeiner Gesundheitskompetenz.“ so David.
Dafür gibt es reichlich Beispiele, von denen man in der Praxis Gebrauch machen kann:
Das Ausschalten oder die Einschränkungen der Benachrichtigungsfunktionen ist ein erster Schritt, sich dem Strom der ständigen Verbindung zu entziehen. So kann man als Nutzer aktiv entscheiden, wann und mit wem man sich verbinden will. Eine weitere gute Methode zu Abgrenzung und bewussten Nutzung ist es, die einzelnen Funktionen, die sich inzwischen alle in das Smartphone verlagert haben, wieder voneinander zu lösen. Das Smartphone ist Telefon, Briefkasten, Musikanlage, Taschenrechner, Uhr, Wecker, Wasserwaage, Kiosk, Bücherei, Kino und Navigationsgerät. So praktisch das ist, all diese Funktionen in einem Gerät zu haben, so schwer ist es dann auch, das Gerät aus der Hand zu legen. Auch die Frage „Wie viel Online-Spielen ist zu viel?“ ist berechtigt. Bei der Beantwortung dieser Frage liegt die Meinung der Eltern und die der Kinder meist weit auseinander. Meist brauchen Kinder die Unterstützung von Erwachsenen, um sich selbst Grenzen zu setzen. Vor allem für junge Kinder ist schon viel gewonnen, wenn das Handy nachts nicht im selben Zimmer schläft, sondern auf der Kommode im Wohnzimmer
Auch Digitalisierung im Bildungssystem wird im letzten Teil des Buches ausführlich diskutiert. Die Schulen sollen sich mit Gefahren und Nutzen der Digitalisierung noch stärker befassen. Eine gute digitale Grundausbildung ist auch ein Beitrag zur politischen Bildung. Denn gesellschaftliche Debatten und politische Meinungsbildungsprozesse verlagern sich mehr und mehr ins Digitale.
Sabria David zeigt uns also mit ihrem erzählerischen Stil, wie wir dank einer Medienresilienz in diesem „Neuland“ glücklich werden können.