Die Geschichte ist ein riesiger Spiegel. Entscheidend ist, aus welcher Perspektive man in ihn hineinschaut. Denn die Reflexionen im Spiegel werden entsprechend der Perspektive Gestalt annehmen. Auch wenn man einen sensiblen und scharfsinnigen Blick hat, bleibt das Reflektierte auch nach Jahrhunderten in bestimmten Grenzen. Es besteht aus einem Querschnitt der Implikationen bestimmter Gesichtspunkte. Die Geschichte, die aus diesen selektiven Ausschnitten besteht, ist die einzige Grundlage für nationales und religiöses Heldentum, das allzu oft die geschichtliche Sichtweise bestimmt. Wenn man es überbewertet und idealisiert, wendet man immer seinen Blick zurück und schaut nicht vorwärts! Wie einst der renommierte türkische Dichter Yahya Kemal sagte: „Es gibt Schönheiten und Hässlichkeiten in der Zeit, die gelebt und mit der Vergangenheit vermischt wurden. Kann diese Hässlichkeit heute für unsere Augen gut aussehen? Geschichte ist also nichts, was man als Ganzes sehen, lieben oder hassen kann. Im Gegenteil, es ist eine Ansicht, die geprüft und beurteilt werden muss.“
Ja, es ist nicht richtig, den Spiegel der Geschichte insgesamt zu lieben oder zu hassen. Es ist notwendig, sie kritisch zu durchleuchten und sachlich akzeptabler zu machen. Denn unterschiedliche Gesellschaften schreiben diesem Spiegel unterschiedliche Perspektiven zu. Es ist wichtig zu schauen, wie die historischen Ereignisse von verschiedenen Zivilisationen gesehen werden und wie muslimische Gesellschaften dies bewerten! Manchmal schätzen auch ausländische sowie inländische Menschen das kulturelle Erbe und das historische Gut nicht, um deren Schutz die eigentlichen Besitzer sich nicht genügend kümmert. Wie in Andalusien!
Andalusien ist ein Epos für Muslime, die in den letzten fünfhundert Jahren im universellen Sinn keine Wissenschaft und Kunst hervorgebracht haben. Es war in der Epoche zuvor völlig anders: Damals gab es eine enorme muslimische Zivilisation, die Europa mit Wissenschaft und Kunst erleuchtete. Sogar die Überreste dieser Zivilisation, wie die Alhambra, die mit unbeschreiblich großer Rache zerstört wurde, sind sehr faszinierend. Es ist unmöglich, sich nicht von Alhambra beeindrucken zu lassen, einem großartigen Denkmal der Harmonie, das sich aus der Vermischung von Mathematik, Physik, Ästhetik, Farbe, Kunst, Feinheit, Wasser, Natur und Mensch ergibt.
Während Europa in jener Zeit in den dunklen Korridoren des Mittelalters lebte, widmeten sich Muslime, die sich auf eine dynamische Kultur stützen, Eroberungsbewegungen und öffneten sich für verschiedene Welten. Alle Faktoren, die für die Bildung einer neuen Zivilisation notwendig waren, lagen jetzt in den Händen und in der Macht der Muslime: Finanzieller Reichtum, der mit Faktoren wie militärische Überlegenheit, Eroberungen, Handel, Produktion und erhöhte Mobilität in großen Regionen einhergeht, sowie führende Persönlichkeiten, die Kultur schätzten und offen für Wissenschaft und Kunst waren! Damals ist ein Wissenschaft-Kultur-Fest in Cordoba, das eine so reiche Umgebung hat, während ein Meisterwerk wie Alhambra in Granada erscheint. Ist das alles? Natürlich nicht. Die Kriminalitätsrate dieser Zivilisation war niedrig, es gab keinen Diebstahl, Gerechtigkeit im Justizwesen, Freiheit für verschiedene Religionen und Kulturen, gemeinsame Lebenserfahrungen, Reisefreiheit in Sicherheit, sogar für alleinreisende Frauen, Hilfe für die Armen, niedrige Arbeitslosenquote, Heiratshilfe für Singles, Stiftungen, soziale und menschliche Solidarität – Dutzende weiterer Details kann man noch hinzufügen.
Die Muslime blieben 700 Jahre lang in Andalusien. Es wäre jedoch nicht richtig zu glauben, dass die islamische Zivilisation in Europa zu allen Zeiten in Europa verführerisch und strahlend war. Viele Tragödien, Kriege, Verfolgungen, Thronkämpfe und soziale Unruhen hat es ebenfalls gegeben!
Im Jahr 711 eroberte Tariq bin Ziyad Andalusien. Er stellte seinen Fuß auf den Schatz des spanischen Königs in Toledo und sagte, ohne sich an dem Sieg zu berauschen: „O Tariq, du warst gestern ein berberischer Sklave, heute bist du ein siegreicher Kommandant, pass auf, morgen wirst du unter der Erde zur Rechenschaft gezogen.“ So soll er die Eroberung manifestiert haben. Aber im Verlauf der Geschichte vertrat man in fast jeder Stadt eigene politische Interessen und strebte nach dem Kalifenamt oder dem Emirat. Im Jahr 778 ersuchte z.B. der Kalif von Saragossa Sulayman bin al-Arabi den König Karl den Großen um Hilfe gegen den Emir von Cordoba Abdurrahman. Karl der Große belagerte monatelang die Stadt erfolglos.
Später fanden immer wieder Machtkämpfe unter Muslimen in den Emiraten wie Cordoba, Sevilla und Granada statt, meistens genährt durch die vorherrschende Stammesmentalität. Natürlich gab es nicht nur Streitigkeiten um den Thron. So kam es auch zu Bücherverbrennungen sowohl unter sogenannten Kalifen als auch unter den Kardinälen. Obwohl Abi Amir Almansor die Kunst und Kultur unterstützte und 987 die große Moschee von Cordoba prachtvoll erweitern ließ, ordnete er auch zum Wohlwollen der islamischen Rechtsgelehrten an, sämtliche philosophischen Bücher zu verbrennen. Weiter unternahm er in seiner 24-jährigen Regierungszeit 52 Kriegszüge zu nördlichen Gebieten Spaniens und ließ 985 sogar Barcelona plündern.
An dieser Stelle ist zu betonen; dass das Menschsein neben den verschiedenen positiven Aspekten wie Arbeit, Produktion, Erfindungsgeist, Gewissenhaftigkeit, Ästhetik, Eleganz, Redlichkeit anscheinend auch negative Urinstinkte hat wie Gier, Veruntreuung, Selbstsucht, Zorn und Aggression. Es scheint, dass diese sich vornehmlich mit Reichtum, Wohlstand und einem statisch-konformistischen Leben durchsetzen. Insbesondere der „Korruptionstrieb“ in den oberen Schichten und unter den Herrschern führte mehrmals zu administrativem und sozialem Niedergang. Denn die „menschliche“ Natur hat immer das Potenzial, Gut und Böse oder Schönheit und Hässlichkeit hervorzubringen.
Es vergingen genau 500 Jahre. Und dieses Mal revanchierten sich die christlichen Spanier mit einer Bücherverbrennung. Der letzte Schritt der Reconquista gegen die muslimischen Mauren geht 1492 mit der Eroberung Granadas zu Ende. Ein paar Jahre später (1499) ließ Kardinal Jimenez de Cisneros etwa 5000 Bücher über Islam, Philosophie, Geschichte und Naturwissenschaft verbrennen. Nur etwa 300 Bücher über Medizin und Mathematik blieben verschont und wurden in die Bibliothek seines Klosters gebracht. Wo Tariq bin Ziyad seinen Fuß auf den Schatz des spanischen Königs in Toledo stellte, dort verwischte Jimenez alle Spuren der Eroberung und der nachfolgenden islamischen Zivilisation durch die Bücherverbrennung.
Der deutsche Dichter Heinrich Heine stellt die damalige Bücherverbrennung in seinem Drama „Almansor“ (1821) auf bewegende Art und Weise und mit einer prophetischen
Äußerung dar.
Damit wir sehen, wie treffend seine Interpretation damals war und auch heute noch ist, möchte ich den Dialog zwischen Almansor und Hassan wortgetreu zitieren:
Hassan:
Gibt’s irgendwo ‘nen Glauben zu verschachern,
So sind zuerst die Pfaffen bei der Hand.
Almansor:
Bald hörten wir daß auch der große Zegri,
In feiger Todesangst, das Kreuz umklammert;
Daß vieles Volk dem Beispiel Großer folgte,
Und Tausende ihr Haupt zur Taufe beugten; –
Hassan:
Der neue Himmel lockt viel alte Sünder.
Almansor:
Wir hörten daß der furchtbare Ximenes,
Inmitten auf dem Markte, zu Granada –
Mir starrt die Zung im Munde – den Koran
In eines Scheiterhaufens Flamme warf!
Hassan:
Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher
Verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.
Die prophetische Äußerung von Heinrich Heine über die Bücherverbrennung setzten 1933 in Deutschland die Nazis in die Realität um und nur einige Jahre später wurden Millionen Menschen in Gaskammern grausam vergast und verbrannt.
Ich weiß nicht, ob Heine auch wusste, dass der gleichnamige Kalif von Cordoba, Almansor, im Jahr 999/1000 die philosophischen Bücher verbrennen ließ.
Man darf also sagen: Eine Bücherverbrennung war und ist im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährlich – denn sie richtet sich nicht einfach gegen Ideen, sondern letztendlich gegen die Menschen, die dahinterstehen. Die Geschichte zeigt, dass nach den Büchern die Menschen ins Feuer getrieben werden, und deshalb gilt der Satz: Wehret den Anfängen! Wo immer Bücherverbrennungen stattfinden, muss man sie als menschenverachtend und verbrecherisch bezeichnen! Dies ist zum Beispiel eine Lehre, die man nur ziehen kann, wenn man die Hintergründe und Opfer vieler Siege kennt.
Wenn man die spanische Atlantikküste Andalusiens oder die Metropolen Sevilla, Cordoba und Granada besichtigt, hat man Gelegenheit, sich über all diese Geschehnisse Gedanken zu machen. In den Städten, die Muslime im europäischen Mittelalter in Dunkelheit mit Wissenschaft und Kultur erleuchten, fühlt man sich zutiefst traurig. Die großen Gelehrten wie Ibn Rushd, Ibn Tufayl, Idrisi, Zahravi, Musa ibn Maymun, Djabir bin Aflah und Zarqali wirkten in diesen Regionen. Andalusien hatte eine beispiellose Zivilisation, in der Menschen aus verschiedenen Religionen lange Zeit in Frieden lebten. Wie weit sind wir gegenwärtig von so einer Zivilisation entfernt! Und wie sehr braucht unsere Welt eine solche Atmosphäre!
Wenn man die historischen Sehenswürdigkeiten besichtigt, stößt man auch auf einige Defizite oder Oberflächlichkeiten in der Lesart der Geschichte. So sind meine Gedanken zu Andalusien ambivalent. Es ist richtig, dass Muslime hier eine Hochkultur, die Jahrhunderte gedauert hatte, gegründet und diese im Jahr 1492 verlassen mussten. Aber man sollte diese Zivilisation mit einer ganzheitlichen Perspektive und aus verschiedenen Aspekten betrachten. Nach meinem Recherchieren konnte ich feststellen, dass einige Muslime den Gedanken der „Eroberung“ sehr faszinierend finden und Siege so verherrlichen, dass sie eine bestimmte historische Epoche für heilig halten. Die Lesart von Leben, Staat, Zivilisation in moderner Zeit über eine heilige Mission (Rassismus, Ideologie, Transfer von Zivilisation usw.) führte die Menschheit zu einem unglaublichen und unbeschreiblichen Schmerz sowie zur Entwertung des Individuums selbst und dessen Leiden. Genauso entwerten und verdrängen auch die Lesarten der Geschichte, die von einer heiligen Mission geprägt sind, viele Tragödien, Dramen und soziale Katastrophen.
Eine historische Auffassung, die nur auf Sultan, Kalifen und deren Siege reduziert wird, verwandelt sich zu einem Heldentum. Diese selektive, nur auf Siege reduzierte Geschichtswahrnehmung führt zu einem oberflächlichen Nationalstolz und trägt zur Bildung einer virtuellen, über andere Menschen gestellten Identität bei. In einem weiteren Schritt fängt man an, dies als eine Glaubenssäule wahrzunehmen.
Auf diese Art und Weise kann man weder aus der Geschichte Lehren ziehen noch ein Bewusstsein für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entwickeln. Ganz im Gegenteil, die Verklärung der eigenen geschichtlichen Erfolge wirkt als Quelle von Überlegenheitsgefühlen. Wenn man sich aus einem Minderwertigkeitsgefühl befreien möchte, verstärkt man weiter die pathologischen realitätsfernen Überlegenheitsgefühle und fördert einen kollektiven Narzissmus. Daher be- oder verhindert eine einseitig reduzierte Geschichtswahrnehmung gesellschaftliche Problemlösungen in der Gegenwart. Das führt auch zu einer Persönlichkeitsstörung, die sich als Nährboden vieler sozialen Probleme erweisen kann. Hat ein kollektives Berauschen am Heldentum bis jetzt irgendein Problem gelöst?
Mein Bild Andalusiens war in meinem Gedächtnis bislang nur von Wissenschaft und Zivilisation geprägt. Auf meiner Reise musste ich erfahren, dass sich auch dort unzählige Tragödien ereignet hatten, die man analysieren muss, wenn man die damaligen gesellschaftlichen Zustände und Entwicklungen verstehen will.
Muhammet Mertek