Niemand kann besser tanzen als er. Er wirbelt seine Partnerin herum, hebt sie in die Lüfte, senkt sie wieder ab und lässt sie sanft dahin gleiten. Eine Bewegung perfekter geschwungen als die andere. Tanzen – das ist Osman Sahins Weg, sich zu entspannen; und seine Partnerin ist eine Feder. Osman Sahin ist kein Choreograf, sondern ein Kalligraf. Er beherrscht die Kunst der klassischen türkisch-islamischen Kalligrafie. Seit über 25 Jahren schon begeistert er sich für sie und nennt seinen Stil den Tanz mit der Feder. Seine Augen sind fest auf den Bogen Papier vor ihm fixiert, er antizipiert bereits die nächsten Tanzschritte. Seine rechte Hand greift sich die Feder, fährt im Atemrhythmus mit ihr über das Papier. Dann ein neuer Gedanke, er hält kurz inne und setzt sein Werk dann fort. Langsam, aber sehr aufmerksam, der Geschwindigkeit seines Pulses folgend.
Für einige Menschen mag die Kalligrafie nicht mehr sein als eine elegante Methode zur Niederschrift von Texten; im türkischen Kulturkreis jedoch ist sie ohne Zweifel eine bedeutende Kunstform, deren Ursprünge sich jahrhunderteweit zurückdatieren lassen. Auf Türkisch heißt Kalligrafie Hat. Genau genommen versteht man darunter eine Schreibkunst oder Schönschrift, die praktiziert und veredelt wird, um spirituelles und funktionelles Schreiben miteinander zu verbinden. Was dem Betrachter dabei aber als Erstes ins Auge sticht, ist das spirituelle Element. Da die Abbildung menschlicher Körper nicht dem islamischen Verständnis entspricht, fließen die Talente einiger muslimischen Künstler der Kalligrafie schon seit Jahrhunderten zu.
„Beim Hat geht es vor allem um Symmetrie, Harmonie und Maße“, erklärt Osman Sahin. „Der Hat ist ein Tanz mit Schreibfeder und Papier, Musik für die Augen. Er besänftigt und erfrischt den Geist und schenkt der Seele Frieden, Gelassenheit und innere Ruhe.“
Die Wurzeln des Hat liegen in der Frühzeit des Islams. Damals wurde der Koran mit der Hand niedergeschrieben und kopiert, wobei allerdings naturgemäß zunächst die wortwörtliche Übertragung der offenbarten Botschaft im Vordergrund stand, und nicht so sehr der Schreibstil. Dieser wurde dann in den folgenden Jahrhunderten unter den Osmanen kultiviert und immer weiter verfeinert. Unter Muslimen gibt es das Sprichwort, dass der Koran in Mekka offenbart, in Ägypten rezitiert und in Istanbul niedergeschrieben wurde. Die osmanischen Türken haben verschiedene Schreibstile entwickelt und perfektioniert, die anschließend in der ganzen muslimischen Welt Verbreitung fanden. Sie respektierten und liebten diese Kunstform, die in Istanbul, der Hauptstadt des Osmanischen Reichs, zu voller Blüte reifte. Überall in der Türkei wurden Paläste, Moscheen, Museen und Brunnen mit kalligrafischen Kunstwerken verziert. Der berühmte Pablo Picasso antwortete einmal, als man ihn zu den Kalligrafen der islamischen Epoche in Andalusien befragte: „Die muslimischen Kalligrafen vor 500 Jahren haben das vollbracht, was ich heute vollbringen möchte.“ In der Türkei der Gegenwart gibt es über 20 Millionen Kunstschätze, die Zeugnis von der Geschichte des Hat ablegen.
Kalligrafie für Stressabbau
Man sagt, dass die Schönheit der islamisch-türkischen Kalligrafie das Innere der Seele des Kalligrafen widerspiegelt. Osman Sahin drückt es so aus: „Immer wenn ich mich gestresst fühle, greife ich zur Feder und zeichne, denn die Kunst des Hat besitzt eine heilsame Wirkung. Zur Zeit der Osmanen wurden Kranke mit den schönen Künsten therapiert: mit dem Hat, mit ruhiger Sufimusik oder auch mit der Kunst des Ebru (Marmorieren).“
Um Kalligrafien zu zeichnen, braucht man spezielle Federn, am besten aus Bambusholz und vorzugsweise aus balinesischem Bambus. „Die Spitze des Bambusrohrs wird mit einem scharfen Messer in einem Winkel von 30 Grad auf die halbe Stärke geschnitten, bis vorne eine ebene Fläche entsteht. Dann spaltet man die Feder von oben zur Spitze hin“, führt Osman Sahin vor. „Auch mit modernster Technik ist es nicht möglich, besser oder schöner zu schreiben, als mit einem Bambus. Wenn das Bambusrohr auf dem Papier quietscht, weint es angeblich, weil es einem Unwissenden in die Hände gefallen ist.“
Es kann kaum verwundern, dass die türkisch-islamische Kalligrafie Menschen auf der ganzen Welt in ihren Bann zieht und verzaubert. Denn man gewinnt fast den Eindruck, als bewegten sich diese Kunstwerke, als würden sie auf dem Papier lebendig. Ihre wundervolle äußere Erscheinungsform entspringt einem langsamen inneren Fluss. Und obwohl lautlos, senden sie eine harmonische metaphysische Melodie aus; eine Melodie, die nicht mit den Ohren wahrgenommen wird, sondern nur in der Seele.
Osman Sahin atmet tief durch und lehnt sich bequem in seinem Stuhl zurück. Er blickt hinab auf seine fertige Kalligrafie, während diese ihrerseits zu ihm aufzuschauen scheint. Der Tanz ist vorüber, der Rhythmus unterbrochen, die Musik verstummt. Die Bambusfeder liegt kummervoll auf dem Tisch; wer weiß, wie lange es dauern wird, bis man sie erneut zum Tanz auffordern wird.
Nisa Terzi