In einer Zeit, in der Rassismus, Populismus, soziale Segregation und Hassreden zunehmen, ist die Frage, wie eine pluralistische, humanitäre Position bestimmt werden kann, noch wichtiger geworden. Darüber hinaus ist es eines der vor uns liegenden Probleme, pluralistisches Denken zu entwickeln und zu lernen, unterschiedliche Meinungen zu respektieren. Wie man moralische Ansprüche, Rationalität und Realität in Übereinstimmung bringen kann, ist auch eine große Herausforderung, die der pluralistische Ansatz meistern muss. Basierend auf diesen Gedanken haben wir versucht, den Pluralismus erkenntnistheoretisch zu begründen.
Stellen wir uns einen Wald mit hohen Bäumen vor. Angenommen, ein Lichtstrahl breitet sich in Kegelform von der Spitze der Bäume aus. Wir stellen vor, dieses Spektrum öffnet sich und bildet den expandierenden Teil des Trichters, der viele Bäume betrifft. Tatsächlich handelt es sich um ein Lichtspektrum, das aus Grundfarben besteht (ähnlich dem Begriff der „Lichtung“ bei Heidegger), bei denen sich ein zusammengesetzter Lichtstrahl nach dem Durchgang durch ein Prisma trennt. In einem Sonnenlichtspektrum scheinen sich die Farben nach der Reihenfolge Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Dunkelblau und Lila von der Ecke des Prismas bis zu seiner Basis auszubreiten. Diese Farben spiegeln sich in sehr unterschiedlichen Tönen auf jedem Baum wider, mit dem sie in Kontakt kommen, je nachdem, wo sie sich befinden und in welchem Winkel sie sich befinden.
Nun sei es anstatt eines Baumes ein Mensch, der in der Mitte des Raums steht, in dem sich dieser Farbenrausch widerspiegelt: Unweigerlich werden verschiedene Farben und Schattierungen, die von einem einzelnen/zusammengesetzten weißen Licht gefiltert werden, auf diese Person reflektieren. Bisher gilt alles als normal und physisch „natürlich“. Aber was würde passieren, wenn eine Person am Prisma steht und die gewünschte Farbe auf kontrollierte Weise in dem gewünschten Ton und Durchmesser reflektiert? Die Situation wird sich komplett ändern. Mit dieser Bewegung entfernt man sich vom natürlichen Zustand. Denn diese Person kann das dreieckige Prisma aus transparenten Materialien manipulieren, das Lichtstrahlen nach Belieben ablenkt und trennt. Wenn es beispielsweise Rot dunkler und breiter reflektiert, werden die anderen weniger effektiv. Wenn Sie den Durchmesser des Grüns vergrößern, bleiben die anderen ebenfalls blass.
Ähnlich kann man sich auch eine Korrelation zwischen den dominanten Farben in dieser Spektralmetapher und der Welt oder der Realität, in der sich die Person befindet, vorstellen. Mit anderen Worten beeinflusst die proportionale Größe der Farben die Wirklichkeitswahrnehmung dieser Person. Unter Berücksichtigung der Variabilität jeder der sieben Farben von hell bis dunkel wird die Variation dieser Korrelation so vielfältig und zahlreich wie die Anzahl der dort gefundenen Entitäten. In diesem Fall darf niemand sagen, „die auf mir reflektierten Farben sind die besten, wahrsten und schönsten“. Wenn man den Gedanken weiterführt, dass jeder Farbe unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen zugeordnet werden können, ist es unvermeidlich, die Existenz unzähliger Dimensionen der Wirklichkeit und verschiedener Welten zu akzeptieren, die miteinander, sogar nebeneinander verflochten sind.
Wenn wir hier die Farben mit anderen Bereichen ersetzen, so kommen wir zu unserem eigentlichen Thema: Wir ersetzen Rot mit Wissenschaft, Orange mit Wirtschaft, Gelb mit Kultur, Grün mit Religion, Blau mit Politik, Dunkelblau mit Geschichte, Lila Philosophie. Der Punkt, den ich hervorheben möchte, wird leichter verständlich, wenn wir die menschliche Beziehung zu diesen Bereichen erörtern, die der Anzahl der Farben des Lichtspektrums entsprechen.
Nehmen wir nun an, dass irgendwo oben anstelle von Farben Bereiche wie Wissenschaft, Religion, Kultur, Wirtschaft, Politik, Geschichte und Philosophie stehen. Es besteht eine direkte Beziehung zwischen diesen Bereichen und den Menschen. Der Grad der Beziehung kann sich entsprechend dem Denkvermögen, den Vorzügen, den Persönlichkeitsmerkmalen, den soziokulturellen Bedingungen und dem Status des Menschen ändern und entwickeln.
Unbestritten ist auch die Bedeutung der genannten Bereiche hinsichtlich der Qualität des menschlichen Lebens und ihre wichtige Rolle im menschlichen Leben. Aber die Frage „Welche dieser Bereiche sind für den einzelnen Menschen von Interesse und worauf konzentriert er sich in seinem Denken und im täglichen Leben?“ ist entscheidender als die Frage „Inwieweit hat der Mensch mit jedem dieser Bereiche zu tun?“ So wie niemand lebt, indem er sich von diesen Bereichen isoliert, verfügt jeder Mensch über bestimmtes Wissen und Bewusstsein in unterschiedlichen Niveaus.
Wir können noch weitere Punkte auflisten, um das Thema ein wenig zu vertiefen:
1) Wenn von „Wissenschaft“ die Rede ist, „welche Wissenschaft“ oder „welche wissenschaftliche Auffassung“ meinen wir; wenn von „Religion“ die Rede ist, „welche Religion“ oder „welche religiöse Auffassung“ meinen wir; wenn von „Philosophie“ die Rede ist, „welche Philosophie“ oder „welche philosophische Auffassung“ meinen wir; wenn von „Politik“ die Rede ist, „welche Politik“ oder „welche politische Auffassung“ meinen wir? So entstehen viele verschiedene Ansätze und Wirklichkeiten. In diesem Fall ist folgender Urteilssatz logisch absolut falsch: „Die einzige Wahrheit ist meine wissenschaftliche Auffassung“ oder „Die einzige Wahrheit ist meine Religion oder meine religiöse Auffassung“. Anders gesagt, es gibt in jedem Bereich Pluralismus oder verschiedene Perspektiven. Zum Beispiel ist es nicht möglich, die physikalische Welt nur durch eine Theorie eines Physikers zu erklären; als würde man die Newton’sche Physik akzeptieren und einige Aspekte der Quantenphysik leugnen. Natürlich verfügt jede Person über eine Farbe und einen Ton. Es könnte seine Wahl sein, aber sie ist nicht die einzige Wahrheit. Man kann also sagen, „das Richtigste“ ist meine These; aber er darf nicht sagen „die einzige Wahrheit“ ist meine. Denn dies widerspricht der pluralistischen Natur der Existenz.
2) Am Beispiel des Lichtspektrums in der Einführung oben steht die Person, die das Prisma steuern kann, in der Wirklichkeit für das „Bewusstsein“. Also das Bewusstsein bestimmt, welche Bereiche von Wissenschaft, Religion, Philosophie, Wirtschaft, Kultur, Politik und Geschichte im Denken und Leben wirksam sein werden. (Markus Gabriel definiert das Konzept des „Bewusstseins“ als „Denk- und Erkenntnisprozesse“.) Manche Menschen können eine bestimmte Interpretation der Religion in den Mittelpunkt ihres Lebens setzen und ihr ganzes Leben mit deren Perspektiven fortsetzen. Andere können sich mit bestimmten Erkenntnissen begnügen, die von wissenschaftlichen oder philosophischen Strömungen bereitgestellt werden. Aber niemand darf behaupten, dass seine Vorstellung absolut richtig ist. Warum? Weil jeder Bereich sehr unterschiedliche Wirklichkeiten/Welten oder Ansätze für sich enthält. Genau wie die Elefantengeschichte, die der berühmte Dichter Mevlana Rumi, der im 13. Jahrhundert lebte, in seinem Buch Mesnevi erzählt. Ein paar Menschen werden mit einem Elefanten in einen dunklen Raum gebracht. Dann werden die Menschen gebeten zu beschreiben, was für ein Tier der Elefant ist. Die Stellen, die sie berühren, sind ein Teil des Elefanten; was sie über den jeweiligen Teil sagen, ist nach ihrer Auffassung richtig, aber macht nicht den ganzen Elefanten aus. Aus diesem Grund ist ihre Wahrnehmung des Elefanten als Ganzes unvollständig und falsch. Auch der Sehende erfasst nicht den ganzen Elefanten, sondern nur sein äußeres Erscheinungsbild. Dass ihm z.B. das, was der Mensch in der Dunkelheit ertastet, verborgen bleibt.
3) Wenn wir es mit den Worten von Markus Gabriel ausdrücken, der die Theorie des „Neuen Realismus“ durch die Weiterentwicklung von Kants philosophischen Ansichten prägte, gibt es keinen Gegenstandsbereich oder kein „Sinnfeld“, das die gesamten Ereignisse der Welt umfasst. Im Gegenteil, es gibt zahlreiche Bereiche, die unabhängig voneinander sind oder sich in gewisser Weise überschneiden. Wie in unserer Waldmetapher unter dem Lichtspektrum gibt es, wie die Reflexion des in Rot oder Grün ertrunkenen Lichtaufruhrs, viele objektive Felder und Bedeutungsfelder in Mensch und Raum. Daher kann der Mensch das Phänomen, das er in seinem eigenen Denken und seiner eigenen Sprache konstruiert, nicht als die einzige Wirklichkeit sehen. Wenn dies der Fall ist, entsteht dadurch eine sogenannte Reduktionierung.
4) Es ist keine angemessene Annäherung für die pluralistische Struktur der Wirklichkeit, wenn Menschen einen einzigen Bereich wie Wissenschaft/Philosophie hervorheben und andere Bereiche außer Acht lassen oder die Religion über alles stellen. So kann die Person eine Farbe haben; anders und unabhängig vom „Anderen“. Wenn er jedoch versucht, dieselben Werte der modernen Gesellschaft aufzuzwingen, und verlangt, dass sie auf die Gesellschaft angewendet werden (jeder in einer Farbe, wie er selbst), führt dies zu Konflikten. Denn moderne Gesellschaften haben eine pluralistische Struktur, die aus Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen und Angehörigen verschiedener Religionen besteht. Der gemeinsame Nenner in heutigen Gesellschaften sollen daher nicht individuelle Werte wie Frömmigkeit sein, sondern universelle ethische Werte, Recht und Verfassung. Deswegen liegt die Grundlage vieler Probleme in der Reflexion der eigenen subjektiven Werte des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft und dem Wunsch, dass alle sozialen Beziehungen im Rahmen seiner Glaubensprinzipien gestaltet werden. Die Verwechslung der individuellen Sphäre mit der kollektiven und die Akzeptanz der eigenen Sinnfelder als eine und einzige Wahrheit führen zu Konflikten mit der Gesellschaft.
Wie ist es also möglich, diese Idee des Pluralismus im heutigen menschlichen und sozialen Leben rational zu verwirklichen? Wie kann ein solcher Habitus zustande kommen? Dafür brauchen wir universelle Kriterien, die in unserer Gegenwart auch gültig sind. Die moderne Rechtsstaatlichkeit, die auf Gewaltenteilung beruht, pluralistische und partizipative Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit, Menschenrechten und -freiheiten sowie Umweltbewusstsein sind heute die Hauptmerkmale moderner Gesellschaften.
Gemeint ist in diesem Sinne eine ebenso humanistische Haltung, die sich bedingungslos gegen menschenverachtendes Verhalten und Entwicklungen wie Rassismus, Diskriminierung, Hass, Ausgrenzung, Gewalt, Krieg, Völkermord, Unterdrückung, Despotismus, Korruption und Ungerechtigkeit stellt.
Die entwickelten westlichen Gesellschaften haben ihre Probleme in diesem Zusammenhang weitgehend gelöst, indem sie mit bestimmten Werten und Methoden wie Rechtsstaatlichkeit, Ethik, partizipative Demokratie und Menschenrechte einen Konsens gefunden haben. Wenn wir uns das Thema in Bezug auf Muslime ansehen, gibt es immer noch keinen Konsens darüber, wo die Religion verortet werden sollte.
Zum Beispiel behaupten einige Muslime, dass alles, alle modernen Probleme mit islamischen Referenzen gelöst werden können. Einige glauben, dass die Probleme gelöst werden, indem sie auf die Politik reduziert werden, und nur von oben nach unten durch eine politische Herrschaft. Andere versuchen, die Probleme zu lösen, indem sie die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse der westlichen Wissenschaft aufgreifen und sie mit den Begrifflichkeiten Schöpfergott, „heiligem Buch“ und Aussprüchen des Propheten in Verbindung bringen, also durch eine gewisse Islamisierung der wissenschaftlichen Entwicklungen. Denn, ebenso wie es nicht immer ausreicht, in Wissenschaft und Technologie Fortschritte zu machen, um soziale Probleme zu lösen, führt es den Menschen nicht dazu, dass er für das Problem des Rassismus sensibler wird oder generell moralischer handelt, wenn er an die Existenz eines allmächtigen Schöpfers hinter dem ökologischen System und der wunderbaren körperlichen Zelle des Menschen glaubt. Kurz gesagt, Fachwissen und Kompetenz in einem Fach erfordern natürlich nicht, in jedem Fach kompetent zu sein. Selbst wenn es Erkenntnisse in Wissenschaft und Technologie gibt, führt dies nicht zu einer Kompetenz in den Sozialwissenschaften, insbesondere im Bereich der „Geisteswissenschaften“. Es ist nicht möglich, alles aus der Randinterpretation zu erklären, dass Religion Lösungen für alle Probleme bietet. Tatsächlich besteht bei einem solchen Ansatz die Gefahr, dass Religion zu einer Ideologie wird und letztlich auch Wissenschaft selbst zu einer vermeintlichen Ideologie werden kann. Dies kann auch dazu führen, dass der Mensch nicht alle Farben des Lebens sehen kann, indem er seine eigenen Wirklichkeiten für absolut hält, vielleicht farbenblind wird, sowie dass er sich von der Realität löst, indem er das ganze Leben als ein von ihm erzeugtes Bedeutungsfeld betrachtet.
Es gibt noch eine andere Tendenz, die häufig bei Menschen zu beobachten ist, denen es an der Fähigkeit mangelt, den Geist/das Bewusstsein an der Spitze des Prismas zu nutzen: Je mehr Menschen von den Bedingungen und Entwicklungen ihrer Zeit, nämlich der gegenwärtigen Realität, fern sind, desto mehr trösten sie sich mit der Vergangenheit und den Verschwörungsmythen. Sie sind leicht einzuholen. Denn in Gesellschaften, in denen sich kein systematisches Denken in den Bereichen Wissenschaft, Religion, Philosophie, Wirtschaft, Kultur, Politik und Geschichte entwickeln konnte, sehen die Menschen ihre verfügbaren Kenntnisse als „Etwas“, das „Alles“ erklärt, da bei ihnen das methodische und kritische Denken fehlt. Ihre Gedanken über die Zukunft, die sie durch diese festen Vorannahmen und Dogmen lesen, sind nichts weiter als eine Verschwörung oder Legende. Sie versuchen, Trost zu finden, indem sie die komplexe Struktur des Lebens und der Gesellschaften vereinfachen und Zuflucht in den Legenden der Geschichte und der Verschwörung suchen. Somit legen sie den Grundstein für die Verbreitung des Populismus, die Produktion sozialer Polarisierungen und imaginärer Feinde durch den Missbrauch religiöser und nationaler Gefühle.
Muhammet Mertek