Lars Jaeger stellt den aktuellen Zustand und die möglichen Entwicklungen des immensen technologischen Fortschritts aus säkularer Sicht dar.
Sein neu erschienenes Buch „Wie wir alle vom Fortschritt profitieren“ (Gütersloher Verlag) hat mich als eine anregende Aufklärungsarbeit begeistert. Leitmotiv des Buches ist die Human-Krise, die aus vielen Perspektiven erläutert wird. Die Lösungsansätze sind horizonterweiternd.
Die Human-Krise, in der wir uns jetzt befinden, sei entscheidend für die Zukunft der globalen Welt; sie sei sogar drängender, umwälzender und bedrohlicher als die Klimakatastrophe oder die Überbevölkerung.
Jaeger denkt generell optimistisch und in einigen Fragen utopisch. Er möchte nur um der Zukunft der Menschheit willen auf die möglichen Nachteile der neuen technologischen Fortschritte aufmerksam machen. Sein Motto ist: Wer dystopisch denkt, hat schon aufgegeben.
Er ruft jeden Menschen auf, sich in den nächsten 25 Jahren, die er sich als eine Übergangphase vorstellt, an der aktiven positiven Gestaltung der Zukunft zu beteiligen. Dazu braucht man erstens Wissen, um was es bei den technologischen Entwicklungen geht; zweitens Motivation, Mut und die Bereitschaft zum gestalterischen Engagement; drittens intellektuelle, philosophische und spirituelle Richtlinien.
In Bezug auf den letzten Punkt stellt er fest, dass das religiöses Engagement weltweit nachlasse. Das moralische Gefüge der Gesellschaft sei heute von agnostischen Grundprinzipien geprägt, die die Kategorie der Sünde durch die Vorstellung von Recht und Unrecht ersetzt haben.
Jegliche quasi Krise der heutigen Gesellschaften, die unser kollektives Bewusstsein bestimmt, mündet in die Human-Krise. Tagtägliche Schreckensmeldungen in den Medien machen uns Angst und führen uns zu Frustrationen, so dass Menschen heute auch die Zukunft als Problem sehen. Jaeger erklärt anhand konkreter Beispiele, welche Faktoren den technologischen Wandel so unbeliebt machen und für einen pessimistischen Blick in die Zukunft sorgen.
Er analysiert die Krisen zum einen als spezifische Krisen. Sie treten als zeitlich begrenztere Probleme wie u.a. innen- und geopolitische „Krisen“ sowie Wirtschafts- und Finanzkrisen auf.
Zum anderen als langfristige Krisen. Dies sind die von Eva Horn erwähnten Metakrisen. Dazu gehören Überbevölkerung, Umweltzerstörung und die Veränderung des globalen Klimas, sowie die nukleare Bedrohung und die als Krise empfundene Veränderung der Arbeitswelt etc.
Bei fast all diesen Krisen handelt es sich im Wortsinne gar nicht um eine echte Krise, sondern viel mehr um Probleme, die im Prinzip – besonders mit Hilfe der Wissenschaft – lösbar sind.
Als die eigentliche Krise fokussiert er auf die Umformung oder Veränderung des Menschen, nämlich, wie schon erwähnt, auf die Human-Krise. Hierbei geht es um eine echte Krise, die uns in existenzielle Gefahr bringe.
Der Autor setzt sich daher mit dem Menschsein als Individuum und seiner Hauptrolle im gesellschaftlichen Kontext hinsichtlich der immensen Fortschritte der Technologie auseinander. Dabei geht er auf den Populismus, Lügen, Vereinfachungen und fake news etc. ein. Weil in unserer komplexen Welt das stützende Korsett absoluter Wahrheiten fehlt, haben politische, soziale, religiöse und philosophische Populisten, Fundamentalisten und andere Vereinfacher Oberwasser. Wissenschaftliches Wissen steht unter ständigem Revisionsvorbehalt, so erlangen wir mit der Zeit ein immer verletzlicheres Wissen über die Welt und die Frage, wie wir am besten in ihr leben können. Den Populisten dagegen geht es nicht um Wissensvermehrung, sondern um Glaubensbestätigung. Sie setzen klare unumstößliche Wahrheiten voraus; was nicht „ihrer Wahrheit“ entspricht, wird mit Mitteln politischer Macht bekämpft, nicht mit denen des Argumentes oder der Faktenlage.
Dort, wo Fakten, wissenschaftliche Erkenntnisse und Expertenwissen grundsätzlich in Frage gestellt werden, sind Tür und Tor für Propaganda geöffnet. Weil viele Bürger sich nicht die Mühe machen, die Quelle einer Botschaft herauszufinden und ihre Argumente kritisch zu hinterfragen, leben wir zunehmend in einer postfaktischen Gesellschaft, in der es keinen rationalen, faktenbasierten Dialog mehr gibt.
„Damit wir uns der Human-Krise und ihrer Komplexität stellen können, müssen wir wieder zurück zu einem rationalen, kritischen und den Fakten verbundenen Denken finden.“ so Jaeger.
Ein Teil der Human-Krise hat mit den zahlreichen kognitiven Verzerrungen zu tun, die die Menschen für unzulässige Vereinfachungen, Lügen und fake news so empfänglich machen.
Eine von diesen Verzerrungen ist die Konformitätsverzerrung, die uns nur das glauben lässt, was in unser Weltbild passt. Schon kleine Anzeichen dafür, dass eine von uns bevorzugte Theorie richtig ist, bestätigen unsere Meinung. Klimaskeptiker verfallen z.B. gerne der Konformitätsverzerrung: Ihnen reicht ein einzelner kalter Winter, um an der Erderwärmung zu zweifeln, so wie auch oft Wetter und Klima verwechselt werden. Wir können also genau mit den Informationen gefüttert werden, die scheinbar zu unserer Lebenswelt passen.
Umgekehrt wirkt der Backfire-Effekt: Realitäten, die keinen Platz in unserem Weltbild haben, wollen wir nicht wahrhaben. Wir blenden sie einfach aus. Zum Beispiel ignorieren Impfgegner die zahlreichen seriösen wissenschaftlichen Studien, die keinerlei Zusammenhang zwischen Impfungen und Allergien sowie Autismus gefunden haben.
Die selektive Aufnahme und Verarbeitung von Informationen erklärt, warum viele Menschen trotz belastbarer wissenschaftlicher Erkenntnisse an ihre eigenen, den Fakten widersprechenden Wahrheiten glauben. Wenn wir wissen, dass die Wissenschaft mehr als 100 kognitive Verzerrungen kennt, die das rationale Denken und Handeln von uns allen einschränken – wie können wir dann diese große Human-Krise überwinden? Natürlich nur dadurch, dass wir unsere Neigung zu Wahrnehmungs- und Denkverzerrungen erkennen und verstehen.
An dieser Stelle bringt Lars Jaeger als eine mögliche Hilfe die These von Daniel Kahneman über die Wahrnehmung und das Denken der Menschen sowie das langsame Denken und das schnelle Denken ins Spiel. Ich möchte hier kurz darauf eingehen, weil ich die These von Kahnemann sehr überzeugend finde.
Als Ursache für unsere kognitiven Verzerrungen führt der US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman einen Teil unseres kognitiven Apparates an, den er eher plakativ als schnelles Denken (oder auch „System I“-Denkweise) bezeichnet. Dieses Denken geschieht sozusagen aus dem Bauch heraus: Es ist instinktiv, stereotypisierend und emotional; es assoziiert, statt zu reflektieren; es folgt unserer Intuition statt unserem Verstand, und es kommt zu schnellen Schlüssen.
In unserem alltäglichen Wahrnehmen, Denken und Handeln spielt das schnelle Denken eine essenzielle Rolle; dank seiner erfassen wir rasch eine Situation und kommen blitzschnell zu Schlüssen und Handlungen. Der Vorteil dieses schnellen Denkens liegt darin, dass vereinfachende Entscheidungsalgorithmen unter Risiko- und Kostenbetrachtungen oft günstiger sind als reflektiertes Denken.
Der Nachteil des schnellen Denkens: Wir achten nicht darauf, wie wir zu einer Schlussfolgerung kommen. Das System I findet auf die Schnelle eine plausible Begründung für das Wahrgenommene und Erlebte. Dabei verlässt es sich auf Assoziationen und Erinnerungen, Vergleiche und Annahmen – Menge und Qualität der Daten, auf denen die Begründung basiert, sind weitgehend irrelevant. Das erklärt Jaeger mit einem konkreten Beispiel: Was die Opfer von Kaprun in Österreich in den Tod führt, war „ihr intuitives, reflexartiges, schnelles Denken.“ Diejenigen, die überlebten, waren ihrem ersten Impuls nicht gefolgt und stattdessen entgegen der Kaminwirkung nach unten gelaufen. Das schnelle Denken kann also im Krisenfall auch in die Katastrophe führen.
Was ist dann mit der Human-Krise? Jaeger zufolge ist das schnelle Denken angesichts der Komplexität der Human-Krise definitiv der falsche Weg. Ganz im Gegenteil: Wir müssen den Reflex des schnellen Urteils ablegen und Situation und Umstände tiefer ergründen und genauer analysieren.
Auf die Frage, ob wir den kognitiven Verzerrungen des uns angeborenen schnellen Denkens überhaupt entkommen können, entgegnet Kahneman: Ja, und zwar durch intellektuelles, auf soziale Verantwortung ausgerichtetes Engagement. Kahneman bezeichnet diese zweite Art des Denkens als langsames Denken oder als „System II“-Denkweise. Jaeger bezeichnet es als das „redliche Denken“. Denn die zentralen Merkmale dieses Denkens sind die detaillierte Auseinandersetzung mit dem Unbekannten, das Wahrnehmen und die Akzeptanz offener Probleme, das unablässige Ringen um Erklärungen, die ständige Reflexion des eigenen Wissens und die unnachgiebige Suche nach Wahrheit.
Jaeger zufolge geht es in vielen philosophischen Traditionen um die Suche nach der Wahrheit, um das Wissen-Wollen, um die Auseinandersetzung mit dem Unbekannten, das unnachgiebige Ringen um Erklärungen. Dies gilt leider nicht für Religionen; sie sind eher das Gegenteil von Philosophie, weil sie sich nicht der Suche nach Wahrheit, sondern der Verteidigung ihrer eigenen, ganz speziellen Wahrheit verschrieben haben.
Um die Human-Krise und andere Herausforderungen zu meistern, müssen wir also unseren Fokus gezielt auf das langsame Denken, d.h. auf rationale Argumente und achtsames Wahrnehmen und Denken lenken – ohne auf die Vorteile des schnellen Denkens zu verzichten.
Die Frage ist, wie wir unsere Zukunft viel bewusster gestalten und die positiven Aspekte neuer Technologien entwickeln und die negativen eindämmen können. Das kann man nur mit dem langsamen Denken, also dem wissenschaftlich-rationalen Denken sowie dem kontemplativen Betrachten schaffen.
In diesem Sinne kritisiert Jaeger die gesellschaftlichen Akteure, die im Alleingang den technologischen Fortschritt nicht steuern können, um eine Lösung für die Human-Krise zu finden: Wissenschaftler/innen sind nicht in der Lage, selber zu steuern. Die Politik ist zu langsam, die Kirchen sind zu dogmatisch und Journalisten/innen überfordert. Kulturschaffende mahnen eher, als dass sie gestalten. Unternehmer preschen zwar vor, handeln aber zu opportunistisch und nur nach ihrem eigenen Vorteil.
Es hängt also an der gesellschaftlichen Gesamtheit, wie zur Zeit der europäischen Aufklärung. Nur wenn diese in die Verantwortung geht, können wir uns vor kognitiven Verzerrungen, impulsivem Handeln, politischen Populismus und den Manipulationen in der neuen digitalen Welt schützen.
In einer Zeit, die von einer rasanten Zunahme von Anhängern/innen populistischer reaktionärer Bewegungen geprägt ist, kann man dem nur auf der Grundlage der Vernunft, des wissenschaftlichen Denkens, des Humanismus und des Glaubens an den Fortschritt und an die kreative Kraft des menschlichen Geistes entgegenwirken. Es geht dabei darum, gegen ein Weltbild anzugehen, das von folgenden alltäglichen Prinzipien geprägt ist: Unbedingte Loyalität zu einer bestimmten Gruppe, Glaubensgemeinschaft oder Nation, Autoritätsgläubigkeit, Akzeptanz vorgegebener Lehrmeinungen und Dogmen sowie Glaube an Magie und böse Kräfte.
Vor allem in den traditionellen und extremistischen Lagern lassen sich nach Jaeger diese Denkschemata beobachten: „Es gibt nur ein mutiges „Vorwärts“ derer, die auf die Vernunft setzen und sich kritisch und reflektiert mit den Entwicklungen beschäftigen, und ein ängstliches „Rückwärts“ derer, die ihren Dogmen verhaftet bleiben, sich in eine scheinbar bessere Vergangenheit zurückwünschen und pauschal alles Neue ablehnen.“ Er fügt auch hinzu: „Wenn Irrationalität in kollektiver Form auftritt, ist sie für viel Unglück auf der Welt verantwortlich.“
Weiterhin spricht der Autor in seinem Buch von vier Anforderungen an eine säkulare Ethik zur Überwindung der Human-Krise, und er stellt fünf Regeln für jedermann auf, worüber man horizonterweiternd vieles lesen kann. Vor allem Muslime sollten sich auch mit den Themen auseinandersetzen und dazu ihren konkreten Beitrag leisten, anstatt ihre einst „goldene Zeit“ in der Geschichte zu idealisieren.
Es bleibt allerdings offen, ob alle gesellschaftlichen Akteure weltweit mitspielen und die Mehrheit der Menschheit, die einer Religion zugehörig ist, mitmachen würden. Insgesamt bietet Lars Jaeger für die reale Human-Krise eine utopische Zukunftsperspektive, die viele gute Überlegungen beinhaltet und zum Denken anregt. In diesem Sinne ist es ein sehr lesenswertes Buch.
Muhammet Mertek