Was weiter denjenigen Bestandteil der Seele betrifft, mit dem sie die Objekte erkennt und begreift, mag er nun für sich abgesondert oder wenigstens, wenn nicht räumlich, doch begrifflich abgesondert sein, so haben wir zu erwägen, was sein unterscheidendes Wesen ist, und wie denn nun das Denken zustande kommt. Ist wirklich der Vorgang beim Denken derselbe wie beim Wahrnehmen, so würde er das Erleiden einer Einwirkung von dem Objekte des Denkens oder doch etwas dem Ähnliches sein. So muß dann aber das Vermögen des Denkens einer äußerlichen Einwirkung unzugänglich, dagegen aber fähig sein, die Form des Objekts in sich aufzunehmen; es muß wohl dem Vermögen nach ähnlichen Wesens sein wie das Objekt, aber es darf nicht dieses Objekt selbst sein; wie das Vermögen der Wahrnehmung sich zu dem Objekte der Wahrnehmung verhält, ganz ähnlich muß sich das Vermögen des „reinen Denkens, der Nus, zu den Objekten des Denkens verhalten. Es muß also, weil es alles denkt, ungemischt sein, wie Anaxagoras sich ausdrückt, um alles zu bemeistern, d.h. alles zu erkennen. Denn was nebenbei als Fremdes mit erscheint, das hindert nur und steht im Wege. Das Denken darf demnach selbst keine eigene Natur als allein diese haben, dem Vermögen nach jegliches zu sein. Was man also in der Seele die Vernunft, den Nus, nennt – und unter Vernunft verstehe ich das in der Seele, womit sie überlegt und Gedanken bildet –, das ist von dem, was ist, noch nichts in Wirklichkeit, solange es nicht denkt. Darum läßt sich auch nicht annehmen, daß es an den Leib verhaftet sei als dessen Bestandteil. Denn dann würde es eine bestimmte Beschaffenheit annehmen; es würde warm oder kalt sein, oder es würde ein Organ dafür vorhanden sein, wie für das Vermögen der Wahrnehmung; so aber gibt es nichts dergleichen. Und so ist es denn wirklich ein treffendes Wort, wenn man die Seele als den Ort des Frommen bezeichnet; nur daß es nicht von der ganzen Seele gilt, sondern allein von der denkenden Seele, und daß die Formen nicht aktuell, sondern potentiell in ihr vorhanden sind.
Daß aber die Unabhängigkeit von äußerer Einwirkung bei der wahrnehmenden Seele nicht die gleiche ist wie bei der denkenden Seele, das wird klar durch einen Blick auf die Wahrnehmungsorgane und ihre Wahrnehmungen. Der Sinn nämlich büßt Wahrnehmungsvermögen ein infolge eines überaus mächtigen Eindrucks, z.B. das Gehör infolge allzu gewaltiger Schalleinwirkungen, Gesicht und Geruch infolge starker Farben- und Geruchseindrücke. Wenn dagegen das Denkvermögen Gegenstände von ganz besonderer Mächtigkeit für das Denken gedacht hat, so denkt es das weniger Mächtige nicht mit geringerer, sondern mit gesteigerter Kraft. Das Sinnesvermögen existiert eben nicht ohne Leib, das Denkvermögen dagegen ist selbständig. Aber wenn es so zu jeglichem wird, wie man es von dem sagt, der wirklich ein Wissender ist – dies aber tritt ein, sowie er sich aus sich selbst heraus zu betätigen vermag –, so ist es auch dann noch gewissermaßen nur potentiell; aber es ist dies doch nicht mehr in dem Sinne wie vorher; bevor es gelernt oder gefunden hatte. Und dann ist die Zeit gekommen, wo es sich selbst zu denken vermag.
Da nun aber weiter Größe etwas anderes ist als der Begriff Größe, Wasser etwas anderes als der Begriff Wasser – dasselbe gilt von vielen anderen Objekten, wenn auch nicht von allen; denn bei manchen ist beides identisch –, so erfaßt auch das Denkvermögen den Begriff Fleisch durch ein anderes Organ oder doch durch ein anderes Verhalten des Organs, als womit es das Fleisch erfaßt. Denn Fleisch ist nicht ohne Materie; es ist wie etwa das Stumpfnasige eine bestimmte Form in bestimmter Materie. Man faßt demgemäß das Warme und das Kalte vermittelst der sinnlichen Wahrnehmung auf und ebenso die Bestandteile, wovon ein gewisses Verhältnis Fleisch darstellt. Dagegen den Begriff Fleisch erfaßt man vermittelst eines anderen Vermögens, das entweder abgetrennt selbständig ist, oder dessen Verhalten zu jenem ähnlich ist dem Verhalten der gebrochenen Linie zu ihr selber, wenn sie zur gestreckten wird. Und wieder bei den mathematischen Gegenständen, deren Wesen die Abstraktion ist, hat das Gerade eine ähnliche Stellung wie vorher das Stumpfnasige; denn es hängt an der kontinuierlichen Ausdehnung. Der Begriff aber, die Geradheit, vorausgesetzt, daß der Begriff Geradheit etwas anderes ist als das Gerade, ist davon verschieden; wir können es bei der Definition als Zweiheit wenden lassen. Das Denkvermögen also faßt ihn mit einem anderen oder mit einem sich anders verhaltenden Vermögen auf. Und so ganz allgemein; wie die Objekte von der Materie zu trennen sind, so ändert sich auch der Vorgang im Denken. (…)
Wie es in dem ganzen Weltall eines gibt, was die Materie für jede Gattung des Seins ausmacht – es ist alles, was potentiell alles das ist, was der jedesmaligen Gattung angehört –, und dazu ein anderes, der gestaltende Grund: so genannt, weil es alle Gestaltung schafft – es ist das gleiche Verhältnis wie zwischen der Kunst und ihrem Material –, so muß es auch in der Seele diese beiden verschiedenen Momente geben. Und so ist denn da in der Tat einerseits die Vernunft mit jener Beschaffenheit, daß sie alles wird, und andererseits die Vernunft mit dieser Beschaffenheit, daß sie alles gestaltet, gleich einer Art von kunstfertiger Macht, vergleichbar dem Lichte. Denn in gewissem Sinne macht auch das Licht erst aus dem, was potentiell Farbe ist, wirklich Farben. Die Vernunft in letzterem Sinne nun ist das, was abgetrennt für sich, jedem äußeren Eindruck unzulänglich, ungemischt, vom Wesen reine Wirksamkeit ist. Denn immer steht das, was wirkt, höher als das, was leidet, und der gestaltende Grund höher als die Materie. Die wirklich gewordene Erkenntnis aber ist mit dem Objekt identisch. Wohl geht die Erkenntnis als potentielle im einzelnen Subjekt der Zeit nach voran, prinzipiell aber auch nicht der Zeit nach. Doch es ist auch das „nicht richtig, daß die Vernunft zu Zeiten denkt, zu Zeiten nicht denkt. Ist sie aber losgetrennt, rein für sich, so ist sie nur noch das, was sie in Wahrheit ist, und dies allein ist in uns das Unsterbliche und Ewige. Aber wir behalten keine Erinnerung, weil die reine Vernunft für äußere Eindrücke unempfänglich ist. Die äußerer Einwirkung zugängliche Vernunft aber ist vergänglich und denkt keinen Gedanken ohne jene.
Das Denken des ungeteilt Einfachen, des Begriffs, bewegt sich auf einem Gebiete, wo ein Irrtum nicht stattfindet. Das Gebiet, wo das Falschsein und das Wahrsein vorkommt, ist dagegen bereits das der Verknüpfung von Begriffen als zur Einheit verbundenen. Es erinnert an die Schilderung des Empedokles: Köpfe entsprossen von mancherlei Art, doch fehlten die Hälse; danach erst würden sie durch die Freundschaft zur Einheit verbunden. So sind auch die Begriffe zunächst abgetrennt und werden dann zur Einheit verknüpft, z.B. Inkommensurabel und Diagonale. Handelt es sich aber um Vergangenes oder Zukünftiges, so wird, indem die Vereinigung vollzogen wird, auch gleich die Zeit hinzugedacht. Wo ein Falschsein ist, da liegt es immer an dieser Verknüpfung. Man hat z.B. dem Weißen das Nicht-Weiß und dem Nicht-Weißen das Weiß beigelegt. Das alles darf „man auch von Sätzen gelten lassen, in denen ein Begriff dem anderen abgesprochen wird. Jedenfalls aber liegt das Richtig- und Falschsein nicht bloß in der zeitlosen Aussage, etwa daß Kleon blaß ist, sondern auch darin, daß er es war oder sein wird. Was aber die Vereinigung vollzieht in jedem dieser Fälle, das ist die denkende Vernunft.
Auszug aus: Peter Prange. „Werte. Von Plato bis Pop – Alles, was uns verbindet.“ Apple Books.